T. Rietmann: Die administrative Anstaltsversorgung im Kanton Bern

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Titel
«Liederlich» und «arbeitsscheu». Die administrative Anstaltsversorgung im Kanton Bern (1884 –1981)


Autor(en)
Rietmann, Tanja
Erschienen
Zürich 2013: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
381 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Michèle Hofmann, Pädagogische Hochschule, Fachhochschule Nordwestschweiz

Tanja Rietmanns Studie befasst sich mit der Geschichte der administrativen Anstaltsversorgung im Kanton Bern in den fast hundert Jahren, in denen dieses «fürsorgepolitische Zwangsinstrument» (o. S.) zur Anwendung kam. Die Studie reiht sich ein in eine kleine Serie von Publikationen zur Versorgung sozial devianter Personen in der Schweiz, die in den vergangenen Jahren erschienen sind und einen regionalen Fokus haben. 1

Das Buch gliedert sich in neun Kapitel und ist sowohl chronologisch als auch thematisch strukturiert. Im ersten Kapitel legt Rietmann die Fragestellungen, den theoretischen Bezugsrahmen, den Forschungsstand, die Quellen und den Aufbau der Arbeit dar. Die Ausführungen zum Stand der Forschung bieten einen sehr lesenswerten Überblick über die Geschichte von Einschliessungspraktiken und Anstaltsversorgung in Europa seit dem 16. Jahrhundert. Das erkenntnisleitende Interesse der Studie richtet sich darauf, wie im Kanton Bern «Diskurs und Praxis der administrativen Versorgung [...] ausgestaltet waren» (S. 13). Während der Diskursbegriff mit Verweisen unter anderem auf Michel Foucaults machttheoretische Überlegungen fassbar wird, wären eingehendere Erläuterungen zum der Untersuchung zugrunde liegenden Praxisverständnis – und allenfalls ebenso zum Verhältnis der beiden Konzepte – wünschenswert. Das zweite Kapitel behandelt die Einführung der administrativen Versorgung im Kanton Bern. Im Zentrum der Betrachtung steht das Gesetz betreffend Errichtung kantonaler Arbeitsanstalten, das 1884 in Kraft trat, und die vorgängigen Debatten im Grossen Rat. Weiter bietet das Kapitel auch einen informativen Überblick über die verschiedenen Vollzugseinrichtungen, die im Laufe der Zeit im Kanton Bern gegründet wurden. Besonders zu erwähnen gilt es ferner Rietmanns Ausführungen zu den titelgebenden Begriffen «liederlich» und «arbeitsscheu». Was diese «auszeichnete, war, dass sie allgemein und umfassend genug waren, um eine breite Palette sozial devianter Verhaltensweisen und Eigenschaften zu erfassen und auch neue Zeiterscheinungen integrieren zu können» (S. 45). Analysen dieser Art sind es nicht zuletzt, die die vorliegende Studie zu einem Lesevergnügen machen. Dies ist umso bemerkenswerter, als sich die Arbeit mit einem eher dunklen Kapitel der schweizerischen Sozialgeschichte befasst: Die administrative Versorgung war eine fürsorgerische Zwangsmassnahme, die in der Regel ohne richterliche Verurteilung beschlossen wurde und einen massiven Eingriff in die persönliche Freiheit der Betroffenen darstellte. Das dritte Kapitel nimmt die Ausweitung der Interventionsmöglichkeiten in den Blick, die sich im Zuge des Gesetzes über die Armenpolizei und die Enthaltungs- und Arbeitsanstalten ab 1913 eröffneten. Mit diesem Gesetz vergrösserte sich der Kreis der potenziell von einer administrativen Versorgung bedrohten Personen: «Während das ältere Arbeitsanstaltsgesetz lediglich vier Versorgungskategorien gekannt hatte, umfasste das Armenpolizeigesetz deren acht [...].» (S. 111) In den Kapiteln vier und fünf beschreibt Rietmann detailliert zwei Fallgeschichten, die eines Mannes und die einer Frau. Diese Fallbeispiele bilden, so könnte man sagen, das Herzstück des Buches. Bei der Auswahl der beiden Fälle wurde «darauf geachtet, exemplarische Erscheinungen herausarbeiten zu können» (S. 137). Vor diesem Hintergrund erstaunt allerdings ein wenig, dass es sich bei Frieda Berger2 um eine «Ausnahmeerscheinung handelte, als sie sich mit aussergewöhnlicher Heftigkeit gegen ihre administrative Versorgung zur Wehr setzte» (S. 138) – ihr Fall ist somit, zumindest in dieser Hinsicht, gerade nicht exemplarisch. Die zwei Fallgeschichten werden sehr anschaulich rekonstruiert, mit vielen Zitaten aus den Personendossiers untermauert und immer wieder aufeinander bezogen. Sie dienen darüber hinaus in den folgenden Kapiteln zur Veranschaulichung. Die beiden Biografien stehen klar im Zentrum des Interesses. Sie werden nur am Rande mit Ausführungen zu weiteren Fällen ergänzt. Diese Konzentration ist der Stringenz der Erzählung sicherlich dienlich. Gleichzeitig ist die Einschränkung insofern ein wenig zu bedauern, als zusätzliche Fallbeispiele Rietmanns Analysen breiter abstützen könnten. Das sechste Kapitel widmet sich der Kritik an der administrativen Versorgung, wie sie seit Ende der 1930er-Jahre geäussert wurde, zuerst vom Berner Publizisten Carl Albert Loosli, dann vonseiten der Rechtswissenschaft und schliesslich auch von Fürsorgeexperten. 1965 – in einer Zeit, in der diese Kritik von breiten Kreisen getragen wurde – erliess der Kanton Bern zum wiederholten Mal ein Gesetz zur administrativen Versorgung. Diesem Gesetz wendet sich Rietmann im siebten Kapitel zu, bevor sie in Kapitel acht aufzeigt, wie unter dem Druck eines internationalen Menschenrechtsdiskurses das Versorgungsrecht 1981 schliesslich ausser Kraft gesetzt wurde. Den Abschluss bildet ein Fazit, das zentrale Aspekte der Arbeit nochmals aufgreift. Es enthält hingegen keine weiterführenden Interpretationen und keine Einordnung in einen grösseren Forschungskontext.

Insgesamt ist Rietmann eine äusserst lesenswerte Studie gelungen. Diese zeichnet sich insbesondere durch vielfältige Bezüge, eine breite Kontextualisierung und kluge Analysen aus. Im Gegensatz zu den meisten in letzter Zeit erschienenen Untersuchungen zur Versorgung sozial devianter Personen steht nicht die Geschichte einer bestimmten Institution im Zentrum, sondern es werden verschiedene Facetten der Thematik beleuchtet.

1 Vgl. insbesondere Lippuner, Sabine: Bessern und Verwahren. Die Praxis der administrativen Versorgung von «Liederlichen» und «Arbeitsscheuen» in der thurgauischen Zwangsarbeitsanstalt Kalchrain. Frauenfeld 2005. Einen aktuellen Überblick über den Stand der Forschung bietet Germann, Urs: Die Administrative Anstaltsversorgung in der Schweiz im 20. Jahrhundert. Bericht zum aktuellen Stand der Forschung. Bern 2014.
2 Die Namen sämtlicher Betroffenen wurden anonymisiert.

Zitierweise:
Michèle Hofmann: Rezension zu: Rietmann, Tanja: «Liederlich» und «arbeitsscheu». Die administrative Anstaltsversorgung im Kanton Bern (1884 –1981). Zürich: Chronos 2013. Zuerst erschienen in: Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 77 Nr. 1, 2015, S. 58-60.

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Beiträger
Zuerst veröffentlicht in

Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 77 Nr. 1, 2015, S. 58-60.

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